Gedanken zur Karte

Vom Motiv her noch etwas eindeutiger als die andere Beilagenpostkarte: Sowas galt in der damaligen Zeit durchaus als anstößig und war sicher kein Motiv, das man einer "anständigen" Frau überreichen würde. Es war schon recht gewagt, die eindeutige Pose, der heruntergerutschte Träger des Kleides, der tiefe Ausschnitt. Ihr Rock reicht gerade mal bis kurz über die Knie, doch damals war es bereits unzüchtig, wenn man nur die Knöchel einer Frau unter ihrem Kleid hervorblitzen sah. Solch eine Bekleidung ging maximal als Unterwäsche durch -oder als Bühnenkostüm, wie uns die Ballettschuhe verraten. Der stattliche Verehrer hat nach dem Auftritt in ihrer Garderobe auf die Ballerina gewartet und ist darüber eingeschlafen, die mitgebrachten Blumen liegen neben ihm auf dem Hocker. Doch statt den fremden Schläfer hinaus zu bitten, kitzelt die schöne Tänzerin ihn an der Nase, um ihn aus seinem Schlummer zu wecken und dann nicht nur im Traum, sondern ganz real vor ihm zu stehen...
Sicher eine Wunschvorstellung vieler Männer der damaligen Zeit und ich male mir aus, wie eine solche Karte überreicht wurde, eine kleine Unanständigkeit, ein Geheimnis zwischen zwei Menschen. Vielleicht mit einem Flüstern "Stell Dir vor, ich sei er und Du die Ballerina...", Blicke treffen sich, ein Erröten, ein Kichern und schon verschwindet die Karte in der Rocktasche und wird erst abends wieder hervorgeholt, um sie heimlich zu betrachten und die Phantasie auf Reisen zu schicken.